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Stefan Gronert

Auszug aus Reality Show – Innen-, Außen- und Bild-Welt

Erschienen in »Seeing Things«, Verlag für moderne Kunst, Nürnberg, 2002

 

Seit den frühen neunziger Jahren verfolgt Christopher Muller mit großer Konsequenz einen eigenständigen bildkünstlerischen Ansatz, der um den Begriff des "Stillebens" kreist. In Anknüpfung an die Darstellungstradition von Claesz, Flegel, Chardin, Manet, Morandi u.a. kopiert er aber nicht einfach deren Bildformen in das zeitgemäße Medium der Fotografie. Mullers Arbeiten reformulieren vielmehr in einer "realistischen" Manier die Bildform des Stillebens, indem sie deren semantischen Rahmen öffnen.

Von Bedeutung und für Mullers Ansatz auch geradezu charakteristisch ist hierbei die Bild-Größe, insofern seine Fotos die gezeigten Gegenstände in annähernder Lebensgröße begegnen. Dadurch gewinnen die Dinge eine illusionistische Präsenz; sie scheinen von realer Gegenwart, wozu sich der Abbildcharakter der Fotografie bestens eignet. Die vorgebliche Faktizität und Haptik der Objekte wird überdies gesteigert durch den Verzicht auf ein Passepartout sowie durch das Fehlen einer klassische Rahmung, welche das Gezeigte als etwas betont Ästhetisches von der normalen Dingerfahrung separieren würde. Das im Diasec-Verfahren direkt hinter die matte, nahezu unsichtbare Plexiglasscheibe geklebte Fotopapier hängt dabei vor der Wand und vollendet somit beinahe das traditionelle, u.a. von Alberti formulierte und illustrierte Bild-Ideal des geöffneten Fensters, der "finestra aperta".

Mullers Stilleben sind nun keine formalistischen Fotografien, die in serieller Form verschiedene Einzeldinge in der immer gleichen Ansicht zeigen. Künstlerisch eher aus der Tradition der Installationskunst und der Malerei als aus der puristischen Fototradition kommend, geht es ihm in seinen fotografischen Inszenierungen alltäglicher Gegenstände vielmehr immer um das Beziehungsgefüge und um das sich das daraus entwickelnde psychische Potential der Objekte. Er bedient sich dabei gewöhnlichen, bisweilen sogar trivialen Gegenständen, die jedermann bekannt sind. Deren bildliche Anordnung wird - ganz im Stile einer malerischen Tradition - nach der je spezifischen Auswahl der Gegenstände in Dutzenden zeichnerischen Skizzen erprobt. Während das Medium der Fotografie eine vergleichsweise hohe Anzahl von Bildern nahelegt, produziert er dementsprechend nur relativ wenig Werke. Im Unterschied etwa zu den meisten Schülern von Bernd und Hilla Becher entstehen sie auch niemals unter dem Horizont einer seriellen Arbeitsweise. Immer handelt es sich um Einzelwerke.

Die aus diesem bedachten Prozeß hervorgegangenen Stilleben sind durchgängig durch eine relativ geringe räumliche Tiefe charakterisiert, was die Intensität der Begegnung steigert und ihre realistische Suggestivität erhöht. Die Dinge erscheinen wie auf einer Bühne präsentiert und sind dabei in einer parataktischen Struktur, d.h. unhierarchisch nebeneinander aufgereiht, so dass das Auge immer wieder über das in der Regel horizontale Bilddformat wandert, ohne an einen zentralen kompositorischen Brennpunkt zu gelangen. So bilden sich mmer wieder neue formale Konstellationen aus, die ihrerseits zu unspektakulären Kurzgeschichten Anlaß geben können, da sich stets neue Zusammenhänge eröffnen, die zwischen einer inszenierten und einer nicht-ästhetischen, einer "realen" Wirklichkeit changieren. Der komplexe Bildaufbau basiert dabei auf formalen Charakteristika und Assoziationen. Er verweist, wie der Künstler selbst ausgeführt hat, "auf eine strukturelle Deutungsmöglichkeit des Bildes, doch gibt es kein leicht identifizierbares hierarchisches Muster von Wahrnehmung und Verständnis. Die relative Einfachheit der Form eines Gegenstands ermöglicht es, klare formale Korrespondenzen auszumachen, und da dem Gegenstand symbolische Bedeutung abgeht, hat der Betrachter eine um so größere Freiheit, eigene Assoziationen zu entwickeln." (1) Die im ästhetischen Kontext vereinte Banalität und Komplexität sensibilisiert den Blick für das gewöhnlich Übersehene. Mullers Ansatz ist also in gewißem Sinne eine Parteinahme für die Dinge. Im gleichen Maße aber reflektiert er auch auf die Individualität des Menschen, wenn er ausführt: "Der Vorgang des Betrachtens spiegelt Momente der Selbstwahrnehmung wieder - da der emotionale Gehalt zwangsläufig mit den Reaktionen und Projektionen des Betrachters verbunden ist." (2)


1. Christopher Muller, Statement, in: Peter Weiermair (Hrsg.), Das Maß der Dinge, Über die Beziehungen zwischen Photographie und Gegenstand, (Ausst.-Kat.) Ursula Blickle Stiftung Kraichtal 1998, S. 124 (Herv. SG)

2. Ebd.

 

Home & Dry II, 1996, 160 x 259 cm, C-Print hinter Acrylglas