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Rolf Hengesbach

Self

Pressetext zur Ausstellung »Self«, Hengesbach Gallery, 2015

 

Christopher Muller hat sich in seinem photographischen Werk vorwiegend mit Dingen beschäftigt, die uns im Alltag umgeben. Da es sich zumeist um Gebrauchsgegenstände handelt, steht für uns ihre Funktion im Vordergrund. Ihre formalen Qualitäten und ihre Beziehungen untereinander werden leicht übersehen, doch gerade hierauf hat Muller sein Augenmerk gerichtet: wie gehen wir mit den Dingen um, welche verschiedenen Sichtweisen auf die Dinge sind möglich und was blenden wir immer wieder aus. Er hat überdies danach gefragt, wie wir mit Dingen unseren Lebensraum strukturieren und welche Zeitschichten, d.h. welches Stück unserer Lebensgeschichte sich in solchen Strukturen jeweils sedimentiert hat.


Mullers photographischer Zugriff auf Dinge hat mehrere Werkphasen durchlaufen. Diese betrafen sowohl eine unterschiedliche Behandlung der Dinge in ihrem Zusammen wie auch eine unterschiedliche mediale Umgangsweise. Muller hat mit Dingarrangements und auch mit vorgefundenen Konstellationen gearbeitet. Er hat zuerst die Dinge frontal vor einer Wand photographiert und damit einen fast unphotographischen, statischen Eindruck erzeugt. Später hat er zunehmend mit Perspektivverschiebungen gearbeitet und den Blickpunkt subjektiviert. Er hat die Mittel des Bildausschnittes, des Anschneidens von Dingen am Bildrand, der Fokussierung als thematischen Bestandteil in seine Arbeiten eingebaut. Immer jedoch hat er das Bild in seiner materiellen Konsistenz als Resultat der Belichtungen eines mechanischen Apparates und eines chemisches Produktionsprozesses erzeugen lassen.

In seiner neuen Ausstellung zeigt er nun zum ersten Mal malerische Arbeiten. Auch diese Arbeiten beschäftigen sich mit Dingen. Ihnen haben sich aber auch die Glieder seines eigenen Körpers zugesellt. Mit der Einbringung des eigenen Körpers wird aber unser Verhältnis zu den Dingen in einer grundlegend anderen Weise beleuchtet. Denn nicht nur kommt der eigene Körper jetzt als direkter Bestandteil der Bilder ins Spiel, sondern die Bilder selber sind durch die Feinmotorik dieses Körpers erzeugt worden. Um diesen doppelten Zugriff auf sich selbst in einen intimen Dialog einzubinden, hat Muller einen neuen Bildraum entwickelt. Diesen Bildraum kann man als unmittelbaren Nahraum bezeichnen. In diesem Nahraum der direkten Körperumgebung ist der eigene Körper Betrachtungsgegenstand und Akteur in dem doppelten Sinne, dass er in diesen Nahraum hineingreift und dass er den Nahraum malerisch gestaltet. Dies hat auch Konsequenzen für den Bildraum, denn dieser ist nicht wie sonst ein losgelöster eigener Raum, sondern an den eigenen Körper gebunden. Die Perspektive auf diesen Raum ist von niemand anderem als nur von mir selbst einnehmbar. Sie ist nicht austauschbar. Jede minimale Bewegung oder Platzierung des eigenen Körpers akzentuiert ihn anders. Stützt sich der eigene Fuß auf, oder halte ich ihn schwebend, schiebt er sich an den anderen heran oder lässt er eine Lücke? Fokussiere ich mit meinem Kopf und meinen Augen mittig oder zur Seite, schaue ich nach vorne oder an mir herunter? Es kommt zu paradoxen Überschneidungen: während die rechte Hand in ihrer Feinmotorik auf dem Papier gestaltet, ist die linke Hand in der spürbaren unmittelbaren Nachbarschaft der Betrachtungsgegenstand. Der Körper betreibt hier ein Gespräch mit sich als Objekt, welches er untersucht, mit sich als Akteur, welcher diesen Raum zentriert und gestaltet, und mit sich als Sensorium, welches auf den Umraum abstrahlt und aus welchem es seine Empfindungen empfängt. Auch wenn kein eigenes Körperteil sichtbar ist, fühlen sich die Dinge auf Mullers Aquarellen so an, als würde wir sie unsichtbar berühren und stünden mit ihnen in einer unmittelbaren Verbindung.


Dass wir uns selbst in ganz unterschiedlicher Weise ansprechen können, liegt an den vielen Stationen unserer persönlichen Geschichte, an den Möglichkeiten unterschiedlicher sozialer Einbindung, aber auch an den verschiedenen Weisen, uns von unserer Umgebung abzusondern oder uns mit ihr zu identifizieren. Unsere ersten Schritte in der Welt geschehen in dem unmittelbaren Nahraum, sie markieren Unterscheidungen zwischen uns und den Dingen. Mullers Arbeiten machen deutlich, dass wir in unserem Leben diese Unterscheidungen immer wieder anders wenden und dass zur täglichen Erfahrung gehört, uns in der immer wieder zu erreichenden Balance von Zuversicht und Verzagtheit, Aufnahmefähigkeit und Verschlossenheit in diesem Umraum zu platzieren.


Der Nahraum radikalisiert die Ambivalenz scheinbar eindeutiger Zuordnungen. Zwar lernen wir schnell zu unterscheiden, was den Dingen und was mir selbst in meiner Umgebung zuzurechnen ist. Dennoch scheinen wir täglich durch Selbstberührungen, Beobachtungen, wechselnde Stimmungen uns dem jeweils neu auszubalancierenden Kräfteverhältnis des Um-uns-Herums stellen zu müssen.


Wie gehört das vor mir ausgestreckte rosaviolettfarbene Gebilde, der Fuß, heute zu mir, sachlich als ein Beobachtungsobjekt, emotional als wohlwollend angesehenes Körperteil, subjektiv als beförderndes oder bremsendes Vehikel meines Weltausgreifens? Spüre ich durch den Fuß den kühlen Fußboden oder den weicheren Stoff des Stuhles, strömt mir von dort Behaglichkeit entgegen? In unserem Nahraum sind mir die Dinge unvollständig gegeben. Ich nehme den Fußboden nicht als Ganzes, sondern nur Aspekte von ihm wahr: seine Glätte, sein Musterung, seine Wärme, seine Lichtabstrahlung, den unmittelbar vor mir liegenden Bereich für meinen nächsten Schritt. Man kann Dinge in einen neutralen Beschreibungsrahmen versetzen, im Nahraum aber sind sie unauflöslich mit meinem Schicksal verbunden und gleichzeitig ich mit ihrem. In diesem temperierten Dialog finden sich immer wieder andere Gewichtungen über Hervorzuhebendes oder Nebensächliches, über Zusammenhänge oder zu Unterscheidendes, über mir wohlwollend oder nachteilig ‚Gesinntes’.

Um den Nahraum in dieser Pointierung zu beschreiben, hat sich Muller mit einer Maltechnik befasst, die ein besonderes Geschick verlangt, die eigene Motorik gegen die Unwägbarkeiten des Materials durchzusetzen, das Aquarell. Die aquarellierende Maltechnik muss mit der selbstständigen Ausbreitung des Wassers und auch der dadurch bedingten Erscheinungsweise der Farbpigmente zurechtkommen. Zugleich aber ist Wasser ein Medium, welches unserem inneren Körpergefühl und den taktilen Qualitäten der Haut sehr nah ist.


In der Addition von kleineren oder größeren Wasserflecken ist der Zugriff auf die dinglichen Ganzheiten unserer Welt ein indirekter. Denn die Ganzheiten werden hier nicht durch direkte Setzung sondern nur additiv und häufig nur suggestiv gegeben. Das Auge spielt in der sinnlichen Ausdeutung der‚ Wasserinseln’ eine bewusst aktive Rolle. Die detailgenaue Nachzeichnung oder Abbildung von Dingen auf der zweidimensionalen Fläche kann hier ebenso wenig Ziel sein, wie eine minutiöse Nachzeichnung der Festigkeit und Statik der Welt. In dem

losen Verbund eines geschichteten, fluidalen Gewebes kommen andere Gewichtungen ins Spiel. Das Aquarell ist prädestiniert dazu, die dinglich begriffliche Interpretation von Welt beiseite zu legen und den Möglichkeiten eines entdeckenden subjektiven Zugriffs breiten Raum zu geben.

Zarte Kräfte bestimmen Mullers Farbverlaufsgewebe. Die Form eines Flecks orientiert sich immer in eine Polarität von Richtungen, für die jeweils zu entscheiden ist, was gegen die Kanten stößt, ob Gegenflecken die Kraft aufnehmen, fortführen, bremsen oder umlenken. Hinzu kommen die Entscheidungen über die Intensität bzw. Dichte der überlagernden Farbschichten, welche die Kräfte modellieren und die Entscheidungen über den Grad an Transparenzen. Im Aquarell ist die Welt durchscheinend. Dies hat vor allem damit zu tun, dass das ungetrübte Weiß des Papiers die hellste Schicht ist und dass die Pigmente der Farben im Wasser sich immer nur als feine Lasuren auf dem Papier ablagern. Je genauer ein Ding oder Körperteil innerhalb des Bildes ausformuliert wird, desto mehr geht die Transparenz und der suggestive Zusammenhang verloren. Je transparenter desto leichter, offener oder freier die dingliche Deutung. Insofern ist jedes Blatt ein komplexer Dialog von dinglichen Begrenzungen und zugleich Öffnungen auf den Umraum, von subjektiven Durchdringungen, Freistellungen, Dynamisierungen, Ablösungen. Ein Bein aus meinem Nahraum zu aquarellieren heißt denn auch, sich von der Vorstellung eines fertigen Dinges zu verabschieden. Das Bein wächst schrittweise in einem festzulegenden Rhythmus von Schichten und Verläufen und es muss mit seiner Nachbarschaft zusammenstimmen, es wächst nur im Dialog zu dieser Nachbarschaft. Darin sind viele Entscheidungen einbegriffen, welche mit den stimmungsmäßigen Deutungen der eigenen sensitiven Befindlichkeit und ihrer Reichweite zu tun haben.

Mullers neue malerische Arbeiten führen uns an den Anfang zurück. Wie entdecken wir uns jeden Tag neu, wenn wir unsere Fühler in die Welt ausstrecken und versuchen, die Welt aufzugreifen? Unser basales Selbst ist das sinnliche Erfassen und Sich-Einrichten in Situationen, in denen Selbst und Welt zusammenfinden müssen. In unserem Nahraum wird daher nicht nur verhandelt, wie der Motor unseres Bewegungsverhaltens, das Bein aussieht oder wie der Motor unseres Handelns, unsere Hände beschaffen sind, sondern wie wir unsere Spielräume aufbauen, uns erarbeiten und uns in ihnen einfinden. Das Zu-mir-selbst-Finden und das Mit-mirzurecht-Kommen innerhalb meiner Umraumberührungen, die Konstitution meines intimen Umfeldes liegt den zarten Wassergeweben Mullers zugrunde.

 

 

Ohne Titel, 2013, 32 x 24 cm, Aquarell auf Papier

 

Ohne Titel, 2013, 32 x 24 cm, Aquarell auf Papier