Christopher Muller
Das Maß der Dinge - Über die Beziehung zwischen Photographie und Gegenstand
Erschienen in »Das Maß der Dinge«, Edition Stemmle, 1998
Ich möchte mich auf die Frage konzentrieren, wie meine photographischen Stilleben sowohl zu einer praktischen, alltäglichen Lesart als auch zu einer ästhetischen Interpretation Anlass geben. Es ist schwierig auseinanderzuhalten, wie weit das Medium der Photographie ein Zusammenspiel dieser beiden Sensibilitäten erleichtert und die weit diese aus der Art der Komposition resultiert.
Die folgenden Aspekten photographischer Stilleben, könnte man sagen, platzieren es klar im Bereich unserer praktischen Sensibilität. Photographie hat von allen künstlerischen Medien am direktesten mit einer nichtästhetischen Realität zu tun, ebenso wie banale Alltagsgegenstände normalerweise nicht mit ästhetischen Erlebnissen assoziiert werden. Die Photographie macht Gegenstände, die ungefähr in ihren ursprünglichen Größen und Farben reproduziert werden, deutlich wieder erkennbar. Diese Gefühl von Vertrautheit wird bestätigt durch einen photographischen Blickwinkel, welcher der Konfrontation mit diesen Gegenständen im Alltag möglichst nahe kommt. Die Gegenstände werden nicht unterminiert, um eine verfremdende Wirkung zu erzielen, sondern normalerweise unhierarchisch aufgereiht – eine höfliche, ordentliche Warteschlange von Gegenstände. Es wird keine Illusion von Tiefe suggeriert, um den Betrachter ins Bild hineinzuziehen. Die folgenden Aspekte, könnte man sagen, dürften zu einer eher ästhetischen Betrachtung der Bilder Anlass geben. Obschon die einzelnen photographierten Gegenstände alle sofort erkennbar sind, entspricht das Arrangement als Ganzes nicht einer sofort erkennbaren Situation. Diese Künstlichkeit impliziert Absicht und eine differenzierte Betrachtung. Der Betrachter wird zum Brennpunkt der konzentrierten Beobachtungen der Kamera. Ein nichtlinearer, komplexer Bildaufbau, der auf formalen Charakteristiken und Assoziationen basiert, verweist auf eine strukturelle Deutungsmöglichkeit des Bildes, doch gibt es kein leicht identifizierbares hierarchisches Muster von Wahrnehmung und Verständnis. Die relative Einfachheit der Form eines Gegenstands ermöglicht es, klare formale Korrespondenzen auszumachen, und da dem Gegenstand symbolische Bedeutung abgeht, hat der Betrachter eine um so größere Freiheit, eigene Assoziationen zu entwickeln. Der überzeugende Illusionismus der Photographie und die Neutralität der Oberfläche eines Photos fördern den Dialog zwischen dem Betrachter und den Gegenständen. Weder die praktische Alltags- noch die ästhetische Deutung lässt sich lange beibehaltnen, bevor die beiden zwangsläufig ineinander übergehen. Auf der Suche nach dem strukturellen Gehalt scheinen sich die photographierten Gegenstände in ihre formale Grundcharakteristiken aufzulösen. Umgekehrt wird ein Stuhl – egal wie wichtig seine formalen Eigenschaften innerhalb einer Komposition sein mögen – immer auch als Sitzgelegenheit wahrgenommen. Diese Verschiebungen sensibilisieren und verfeinern unsere Wahrnehmung der Gegenstände. Der Vorhang des Betrachtens spiegelt Momente der Selbstwahrnehmung wider – da der emotionale Gehalt zwangsläufig mit den Reaktionen und Projektionen des Betrachters verbunden ist.
From Head to Toe, 1991/92, 181 x 145 cm, C-Print hinter Acrylglas