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Maria Müller-Schareck

Auszug aus: „In wilder Ehe”[1] 

Erschienen in »Looking Pictures«, Verlag für moderne Kunst Nürnberg, 2010

 

Wie ein roter Faden, manchmal deutlich sichtbar, manchmal fast verborgen, durchzieht die Collage als Konzept der Bildfindung das heute vorliegende Werk Christopher Mullers, das neben Stillleben, Landschaftsaufnahmen und Porträts auch eine Gruppe von inzwischen mehr als 30 Collagen umfasst. In diesen sind, jeweils auf kleinem oder mittlerem Format (in etwa 10 x 25 bis 21 x 100 cm), zwei, drei oder vier Bilder Fotografien höchst unterschiedlicher Herkunft und Größe zu einer Einheit montiert. Die Schnitt- bzw. Stoßkanten verlaufen meist parallel zum Rand des Bildträgers, nur selten abseits der Vertikale. Die Bilder sind nicht immer in ihrer gewohnten und erwarteten Lesrichtung sichtbar, sondern werden von Muller scheinbar beliebig gedreht.

Den Auftakt der Werkgruppe markiert eine programmatisch als Collage betitelte Arbeit aus dem Jahr 1997, in der der Künstler drei auf Fotografien basierende Bilder aneinanderfügt. Ganz offenbar einem Wirtschaftsmagazin entstammt das „Stillleben“ mit Zeitschriften, Taschenrechner, Finanzpapieren, Stiften, Brille und Kaffeetasse, das von der Spur eines Falz durchzogen ist. Diesem fügt Muller das stark beschnittene fotografische Bild von Werkzeugen auf einer weißen Fläche an sowie das einer Arbeitssituation mit Diapositiven, einem Leuchtkasten, Fotonegativen und einer Schere. Neben dem in vertrauter Ausrichtung gezeigten „Stillleben“ mit Kaffeetasse ist das schmale Segment mit Werkzeugen um 90° Grad gedreht, das Bild des Arbeitsplatzes sogar um 180° und nun kopfstehend. Man möchte die kleine Tafel von der Wand nehmen, sie in die verschiedenen Lesrichtungen drehen, um zweifelsfrei alle Bildelemente zu entschlüsseln. Christopher Muller hat hier fotografierte und refotografierte Stillleben in Beziehung gesetzt, die auf sehr unterschiedliche Weise den Bezugsrahmen eines Künstlers umschreiben: Der Arbeitsplatz mit Bildern im Urzustand, die Werkzeuge (Zollstock, Hammer), die notwendig sind, um ein fertiges Bild zu präsentieren, und zuletzt der wirtschaftliche Rahmen (Rechenmaschine, Börsenkurse), in dem Kunst zur Ware wird. Dass Muller hier auf unterschiedlichen Ebenen über seine Kunst und sein Künstlersein reflektiert, ist unübersehbar. Dass er dies mit eben jener ersten, auch als solcher bezeichneten Collage tut, weist auf die Bedeutung des Konzepts von Collage für seine Arbeit hin. Die prominent ins Bild gerückte Schere unterstreicht dies: Im Zeitalter der analogen Bilder war sie als unverzichtbares Werkzeug die Voraussetzung jeder Collage. Dank der Möglichkeiten digitaler Bildverarbeitung legt sie heute nur noch eine Spur, die auf den Prozess des Zerlegens und neu Montierens verweist, der das Wesen der Collage ausmacht.

Schon 1994 hat Hannelore Kersting bemerkt, dass in Mullers Stillleben „einer Collage ähnlich ... den einzelnen Elementen weitgehend ihre Individualität erhalten [bleibt]“ und sie „durch ihre Zuordnung zu einem neuen Kontext und durch neue Nachbarschaften ... zusätzliche Bedeutung“ gewinnen.[2] Joseph P. Huston stellte später fest, dass „das Konzept der Collage, Ordnung und Neu-Ordnung, in Mullers Werk eine durchgehende Konstante“[3] bildet. Dies lässt sich an den Stillleben ebenso beobachten wie in den Landschaftsaufnahmen und Porträts. Die handwerkliche Anmutung von Collagen mit ihren formgebenden Schnittkanten, den Überlagerungen, dem Nebeneinander unterschiedlicher Oberflächen- und Materialqualitäten spielt in der Fotocollage eine untergeordnete Rolle, da durch Refotografieren des Ausgangsmaterials die Oberfläche vereinheitlich wird.

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Im Stillleben The Lonely Are the Brave, 1996, trifft am Rande einer Reihe bescheidener, alltäglicher Gegenstände eine Dose Vogelsand auf das in einer beschrifteten, partiell transparenten Schachtel zur Schau gestellte Modell eines Fahrrads. Zwölf Jahre später begegnen sie sich in (der Collage) Vogelsand wieder. Jeweils ein scheinbar willkürliches, aber doch intensiv erprobtes Nebeneinander, bei dem das jeweilige Umfeld maßgeblich das Bild verändert, das wir von den Objekten gewinnen: Auf reflektierender Grundfläche vor einer weißen Wand fügen sie sich am Ende einer Objektreihe in den spannungsvollen Wechsel zwischen zylindrischen und quadratischen Formen. Trotz extremer Farb- und Größendifferenzen – alle Dinge sind auch hier in ihrer originalen Größe sichtbar gemacht – entsteht ein Rhythmus der gereihten und gestapelten Objekte, aus dem keines dauerhaft in den Vordergrund drängt. Der Blick folgt der Reihe, wandert von links nach rechts, verharrt und wandert zurück. Irritation erzeugt der einzige fast körperlose Gegenstand, eine Fotografie, deren Oberfläche und damit das Bildobjekt sich dem Blick entziehen, weil sie unter denselben Bedingungen fotografiert wurde wie die Dosen und Schachteln. Hier bereiten sich die Collagen vor, in denen dann ausschließlich fotografische Bilder auf einer Bildebene zusammengefügt werden. Vogelsand beispielsweise ist Stillleben und gleichermaßen auch schon Collage: Vor dunkel gemasertem Holz stoßen Dose und Schachtel unmittelbar aufeinander, beide Objekte sind oben und unten stark beschnitten. Die dunklen Verschattungen an den Rändern der Dose bilden vertikale innerbildliche Linien, die sich, aufgrund der fehlenden Räumlichkeit des Stilllebens, zugleich als vertikale Stoßkante in einer Collage lesen.

 

[1] Collage im Französischen bezeichnet im übertragenen Sinne auch eine „wilde Ehe“ bzw. die „Situation eines Mannes und einer Frau, die zusammenleben, ohne verheiratet zu sein.” Vgl. Paul Robert: Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, zit. nach Werner Spies: Max Ernst Collagen. Inventar und Widerspruch, Köln 1975, S.18.

[2] Hannelore Kersting: „Stilleben“, in: Christopher Muller, Ausst.-Kat. Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach, 1994, S. 8.

[3] Joseph P. Huston: „Quality flow“, in: Christopher Muller. Seeing things, hg. vom Institut für Moderne Kunst, Nürnberg 2002, S. 119.

 

 

Collage, 1997, 13 x 33 cm, C-Print hinter Acrylglas

 

The Lonely Are the Brave, 1996, 29 x 112 cm, C-Print hinter Acrylglas

 

Vogelsand, 2008, 15 x 49 cm, C-Print / gerahmt